Santiago Atitlán – als Englischlehrerin in einer Maya-Stadt

Guatemala

von Anna

Klatsch, klatsch, klatsch – flink formen die Tortillaverkäuferinnen die dünnen Maisfladen. Bimmelimmeling - die Eisverkäufer machen mit ihren Glöckchen auf sich aufmerksam. Unterbrochen werden sie von den tosenden Motoren und Hupen der Chicken Busses, die sich am Morgen durch die Gassen quetschen. Es riecht nach frisch gepresstem Orangensaft, warmen Tortillas, Weihrauch und den Abgasen der Tuctucs. In ihren farbenfrohen, reich bestickten Trachten richten sich die Marktverkäuferinnen hinter ihren Bergen von Mangos, Bananen und Zapotes ein. Senioren lassen sich im Park auf schattigen Bänken nieder. Energiegeladen spielen Kinder auf dem betonierten Platz vor der Schule Fußball. Ich bin unterwegs zur Panaj-Schule in der Nähe des Seeufers.


“¡Buenos días seño, pase adelante!” Schon an der Türschwelle begrüßen mich meine Schüler übermütig. In meiner ersten Stunde stelle ich mich auf Englisch und Spanisch vor, woraufhin sie die Sätze auch auf Deutsch und Französisch hören wollen. Einige Schüler sind ausgesprochen neugierig: “Was ist Ihre Lieblingsfarbe? Wie alt sind Ihre Eltern? Haben Sie Haustiere? Spricht man in Deutschland Englisch? Gibt es in Flugzeugen Betten? ...”


“¡Hola Ana!” Schon nach meinem ersten Schultag grüßen mich Kinder in den Straßen von Santiago. An zwei verschiedenen Schulen unterrichte ich insgesamt acht Klassen, sprich 167 Schüler zwischen zehn und 13 Jahren. Spielerisch lernen wir Farben, Tiere, Objekte im Klassenraum und Adjektive zum Beschreiben von Personen auf Englisch. Die Lieblingsvokabeln der meisten sind “fat – gordo” und “ugly – feo”. Neben Liedern wie “Head, shoulders knees and toes” kommen besonders Spiele gut an, da die Kinder sehr wetteifrig sind. Das Unterrichtsniveau ist vergleichsweise gering. So stellt Grammatik wie das Verb “to be” für viele im zweiten Lernjahr bereits eine Überforderung dar. Erschwerend kommt hinzu, dass einige zu Hause nur Tz'utujil sprechen und Spanisch erst in der Schule lernen. Jedenfalls sind die meisten Schüler ausgesprochen süß. Eine Viertklässlerin schenkt mir einmal spontan einen Schokokeks, ein Fünftklässler malt eine Deutschlandflagge für mich und die Mädchen der 4A verabschieden mich spontan mit Küsschen. Gleichzeitig ist der konstante Tumult und Lärm eine echte Herausforderung. Ständig mit dem Sitznachbarn quatschen, reinrufen, im Klassenraum herumlaufen oder einfach mal rausgehen ist hier eher die Regel als die Ausnahme. In meiner Rabauken-Klasse werden mitten im Unterricht auch mal Flöte, Fußball oder Klatschspiele gespielt. In der Mateo Herrera Schule hat man offenbar alle braven Schüler in die eine 6. Klasse gesteckt und die übrigen Schüler in die andere. Entsprechend herausfordernd ist der Unterricht in solchen Klassen für alle Beteiligten. Und um so schneller lerne ich, die verschiedenen Formen des Imperativs auf Spanisch anzuwenden...


Überraschend gut funktioniert der Schweigefuchs (“el zorro silencioso”), den ich unter dem Tarnmantel eines Spiels einführe. Innerhalb kürzester Zeit herrscht bei Bedarf Stille - zumindest kurz, und da der “zorro” auf einer reinen Geste beruht, kann ich nebenbei meine Stimmbänder schonen. Enttäuschend sind dagegen die Ergebnisse der so genannten Hausaufgaben. Obwohl die Schüler im Unterricht hierfür viel Zeit bekommen und ihre Mitschriften benutzen dürfen, fallen viele Noten schlecht aus. Auch bei Tests ist es eine Herausforderung, die Klasse zum stillen Arbeiten zu animieren – viele versuchen zu spicken, abzuschreiben oder miteinander zu reden. In einigen Klassen halte ich im März insgesamt acht Unterrichtsstunden, in anderen wegen der vielen Unterrichtsausfälle nur drei. Schulungen, Ausflüge, Sportveranstaltungen, Geburtstag des Klassenlehrers – es gibt immer wieder etwas, was gerade wichtiger als Unterricht zu sein scheint.


Eine flächendeckende Schulbildung gibt es in Guatemala nur auf dem Papier. Wie in vielen Entwicklungsländern, sind Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur in den Städten weitaus besser als auf dem Land. In den ländlichen Regionen mangelt es besonders an Lehrern. Zudem werden Kinder hier als Arbeitskräfte angesehen. Guatemala ist ein junges Land: das Durchschnittsalter beträgt gerade einmal 18 Jahre (in Deutschland 44 Jahre). Da die Politik es aus verschiedenen Gründen nicht schafft, die Probleme des Landes effektiv anzugehen, organisieren sich die Bürger in Graswurzel-Organisationen. Hinzu kommen ausländische Non-Profit Organisationen wie die spanische Stiftung Asociación One Two Tree, die sich seit 2017 in Santiago Atitlán für kostenlosen Englischunterricht in öffentlichen Schulen einsetzt.


Im März sind wir elf Voluntarios aus Europa und den USA, die sich in Santiago für One Two Tree engagieren. Der Fokus liegt auf neun öffentlichen Schulen, daneben gibt es auch Englischkurse für junge Erwachsene sowie für Lehrer einer Privatschule. Mittwochs tauschen wir uns in Teammeetings über unsere Erfahrungen und die weitere Planung aus, zumeist auf Kinderstühlchen in einer türkis-rosa getünchten Schule oder einmal im Café des schicken Hotels Tiosh Abaj. Abends treffen wir uns regelmäßig in den Bars Santiagos und Tikas Abschiedsabend verbringen wir im netten Garten der einheimischen Künstlerin Barbara. Unsere Koordinatorin Gergana stammt aus Bulgarien, ist in Spanien aufgewachsen, im vergangenen Jahr als Freiwillige nach Guatemala gekommen – und wirkt noch immer hier. Ganz ähnlich erging es unserem akademischen Leiter Gary aus den USA im Schwesterprojekt in Nicaragua, das zwei Jahre vor dem in Guatemala startete. Als dieses vor knapp einem Jahr wegen der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Nicaragua geschlossen werden musste, verließen er und die übrigen Freiwilligen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion per Taxi das Land, da die Grenzen tagsüber dicht gemacht wurden.


Amélie aus Frankreich und ich kommen am selben Tag am Fähranleger in Santiago an. Wir bleiben beide für den Monat März, wohnen in derselben Gastfamilie und verstehen uns auf Anhieb. Meistens unterhalten wir uns auf Englisch, mal auf Spanisch, mal auf Französisch. Unsere Gasteltern Maritza und Pedro sind 33 und damit nur wenige Jahre älter als wir, haben jedoch schon einen 15-jährigen Sohn und eine achtjährige Tochter, Jesse-David und Azul, und befinden sich daher in einer ganz anderen Lebensphase. Maritza bekocht uns täglich mit frischen Zutaten vom Markt – Bohnen, Eier, Avocados, Bananen, Güisquil, Fisch und vielem mehr. Dazu gibt es immer warme Tortillas, die von den jungen Frauen am Straßenstand gleich neben unserer Haustür den ganzen Tag über zubereitet werden. Die Gespräche mit Maritza eröffnen uns tiefe Einblicke in das Familienleben, Werte, Traditionen, Religion und was die Menschen in Santiago bewegt.


Eines Abends kochen Maritza, Amélie und ich gemeinsam die regionale Spezialität Patín, winzige Seefische mit scharfer Tomatensauce. Kurz danach steht Amélie ganz aufgelöst vor meiner Tür: in ihrem Zimmer sei eine Maus. Bei der anschließenden Mäusejagd lernen wir unseren Gastopa kennen, der kurzerhand vorbei kommt. Ist ja nicht weit – Pedros ganze Verwandtschaft wohnt in derselben Straße. Zwei Tage später dasselbe. Diesmal sind Maritza, Amélie, Azul und ich zuerst auf uns gestellt und haben viel Spaß. Als männliche Verwandtschaft zur Unterstützung kommt, verschwindet die Maus wie durch Zauberhand. Arme Amélie...


Mit 26.000 Einwohnern ist Santiago Atitlán die größte Ansiedlung am Lago de Atitlán und ein wichtiges kulturelles Zentrum für die Tz'utujil Bevölkerung. Freitags und sonntags verwandelt der Markt die Straßen in ein buntes Wirrwarr aus Lebensmitteln, Textilien, Krimskrams und Menschen. Die aufwendig bestickten Trachten aus Santiago sind die teuersten der Region und kosten mehrere tausend Quetzales (umgerechnet mehrere hundert Euro), da sie wochen- oder sogar monatelange Arbeit bedeuten – für die Einheimischen horrende Preise, die sie aus Traditionsbewusstsein dennoch zu zahlen bereit sind. Die meisten der einheimischen Frauen tragen täglich ihre Trachten und man sieht auch noch einige ältere Herren in den traditionellen gestreiften, bestickten Hosen. Auf der Straße vom Fähranleger ins Zentrum reihen sich bunte Textilstände und -läden aneinander, die auf die Touristen ausgerichtet sind. Große Teile der Stadt sind von einem Gewirr von Gässchen durchzogen, durch die gerade so ein Tuctuc hindurch passt. Ansonsten wirkt die Stadt recht zugebaut, da die meist kleinen Häuser immer weiter aufgestockt werden, wodurch die Aussicht meist begrenzt ist. Da in Santiago jeder jeden kennt und der Ort sehr traditionell geprägt ist, ist es hier sehr sicher und so können wir uns auch abends im Dunkeln frei in der Stadt bewegen, ohne um unsere Sicherheit oder Wertsachen bangen zu müssen.


Die Menschen in Santiago sind enorm lärmresistent. Sorgt morgens das Geschrei der Kinder in der Schule für ordentlich Dezibel, hält mich in den ersten Nächten das Bellen der Straßenhunde, ganz besonders des Familienhunds Twister auf der Dachterrasse, das Krähen der Hähne ab 2 Uhr nachts und das Tosen des Windes wach. Aber man gewöhnt sich schließlich an alles. Um Punkt 7:30 Uhr beginnt dann das ohrenbetäubende Gehämmer auf der Baustelle des Nachbarhauses, das die dünnen Wände gefühlt zum Wackeln bringt. Mit einfachstem Werkzeug durchbrechen die Handwerker ganze Betonwände, um die Dachterrasse für Maritzas Schwägerin zum Wäschewaschen zugänglich zu machen. Hier waschen fast alle ihre Wäsche von Hand. Waschmaschinen sind selten und Geschirrspülmaschinen gänzlich unbekannt.


An den Sonntagabenden ist die Stadt erfüllt von den Gesängen der Gläubigen in den Gotteshäusern. Die Kirche hat einen immens hohen Stellenwert - Maritzas Schätzung zufolge praktizieren 99 Prozent der Einheimischen den christlichen Glauben. Sie selbst geht viermal wöchentlich in den Gottesdienst, der jeweils zwei bis vier Stunden (!) dauert. Ihre Familie gehört einer evangelikalen Kirche an, die sich neben der katholischen Kirche hier großer Beliebtheit erfreuen. Im Gegensatz zu Katholiken dürfen die Mitglieder der evangelikalen Kirchen hier weder feiern, noch tanzen, noch Alkohol trinken. Die Kirchen unterstützen die Gemeinden mit Entwicklungsprojekten, so beispielsweise großen Anlagen zur Wasserfilterung, fördern aber auch den Bau großer Gebetshallen. Bereits mehrere Wochen vor Ostern thront vor der katholischen Iglesia de Santiago Apóstol ein eindrucksvoller Paso und wartet darauf, während der Prozessionen der Semana Santa durch die Stadt getragen zu werden.


Von kirchlichen Heiligenfiguren und seinen lebendigen Beschützern umgeben wacht der Volksheilige Maximóm mit einem glühenden Zigarrenstummel im Mund unter lila Luftballons über die Stadt und bietet den Pilgern aus den umliegenden Ortschaften die Erfüllung ihrer Wünsche. Diese müssen nur daran glauben und ordentlich spenden, in Form von Geldscheinen und / oder Alkohol und Tabak, wovon der Schutzheilige große Mengen konsumiert. Seine Bewacher, die ein ganzes Jahr lang nichts anderes tun, unterstützen ihn tatkräftig dabei. Ob wir ihn nicht um etwas bitten wollen, einen Freund zum Beispiel, möchte einer der Bewacher auf Spanisch wissen. “Na Amélie, wie wärs?” - “Auf keinen Fall!” Da stutzen die Bewacher. “Wie? Du brauchst doch einen Mann, der dir alles kauft, was du möchtest!” - “Überhaupt nicht, das kaufe ich mir lieber selbst.” Fassungslosigkeit auf beiden Seiten – hier treffen Welten treffen aufeinander.


Nachmittags sind die Cafés einiger Luxushotels die perfekte Location, um in Ruhe und grandioser Landschaftskulisse den Unterricht vor- und nachzubereiten. In der Santiago de Posada genießen wir von gemütlichen Lehnstühlen aus den Blick auf den Lago samt San Pedro Vulkan, lassen uns Nachos mit Guacamole schmecken und kühlen uns im überraschend sauberen See ab. Seit uns Maritza erzählt hat, dass Einheimische hier nur hin dürfen, wenn gerade keine Ausländer da sind, haben wir jedoch ein ambivalentes Verhältnis zur Posada. Sympathischer ist uns da das Bambu Hotel mit tollem Stadtblick, wo wir im windgeschützten Restaurant korrigieren können und die Kellner zuvorkommend und gut gelaunt sind.


Obwohl hier alles viel länger dauert als in unseren Heimatländern - wie zum Beispiel im Copy Shop 167 doppelseitige Tests ausdrucken -, haben wir gefühlt mehr Zeit. Während in Deutschland die Zeit wie im Flug vergeht, plätschert sie in Guatemala allmählich dahin – oder prägnanter auf Englisch: „In Germany, time flies. In Guatemala, time flows.“ Der Tag ist nicht minutiös getaktet, Unterrichtsstunden fließen ineinander, selbst aufs WLAN müssen wir manchmal ein Weilchen warten und es kommt nie darauf an, pünktlich irgendwo zu erscheinen. Amélie und mir gelingt es immer wieder, zwar zu spät, aber dennoch als erste zu den Treffen mit den anderen Voluntarios zu kommen. Auch tun sich immer wieder unerwartet freie Zeitfenster auf, wenn Unterricht ausfällt. Besonders interessant finde ich in diesen Freistunden ein guatemaltekisches Sozialkundebuch aus den 90er Jahren, das ich mir in der örtlichen Bücherei ausleihe. Im Kapitel über die Conquista lautet eine Aufgabenstellung: „Stellt euch vor, was passiert wäre, wenn die Mayas Spanien entdeckt hätten...“


Nach einem Monat heißt es Abschiednehmen: für Amélie geht es nach Mexiko, für uns nach Costa Rica. Gemeinsam mit Max backen wir für unseren Abschiedsabend Crêpes mit herzhafter Gemüsefüllung, karamelisierten Äpfeln und Bananen. In Ermangelung eines Schneebesens rührt Amélie den Teig mit einem Mixer glatt – ein Sakrileg für eine Französin aus der Bretagne... Ein letztes Mal verbringen wir einen geselligen Abend mit den Voluntarios. Zu unserer Verblüffung ist Gary, der wie Anfang 40 aussieht, - schon 61 Jahre alt. Auch von Maritza verabschieden wir uns sehr herzlich mit einem Strauß Blumen.


Mit meinen Schülern spiele ich in der letzten Unterrichtsstunde ein Pantomime-Spiel zum Wörterraten, das auf große Begeisterung stößt. Je nach Klasse treten Team Chelsea gegen Team Liverpool oder auch Team Estrellas gegen Team Anna an (obwohl ich eigentlich nur Schiedsrichterin bin). Mit stürmischen Massenumarmungen wünschen mir die Kinder Lebewohl, auch und besonders meine Rabauken-Klasse. Die Schüler der 4B können dagegen kaum fassen, dass ich sie verlasse, und schreiben mir spontan bunte Briefchen zum Abschied. Einfach rührend!


12Tree freut sich immer über Unterstützung und ist seit Februar mit einem ähnlichen Projekt im mexikanischen Bundesstaat Chiapas aktiv. Infos zu Frewilligendiensten und Spenden findet ihr unter www.onetwo-tree.com.

Und hier noch ein paar weitere Impressionen:

vorheriger Artikel naechster Artikel