Zeit ist relativ in Guatemala. Ein, zwei Stunden Verspätung seien bei Verabredungen und Verkehrsmitteln völlig normal und würden hier als “la hora chapina” bezeichnet, klärt uns unsere Gastgeberin Sarita auf. Das ganze funktioniert offenbar auch in die andere Richtung: um 04:30 Uhr soll uns ein Shuttlebus abholen, der dann allerdings schon um 04:12 Uhr vor der Tür steht. Zum Glück haben wir am Vorabend gepackt. Und so stehen wir vor dem Ticket-Schalter in Tikal, noch bevor dieser um 6 Uhr öffnet.

Mystischer Nebel umgibt uns, als wir die Hauptwege verlassen und über schmale Dschungelpfade wandern. “My friends...” beginnt unser Guide Lloyd jeden seiner Sätze. Immer wieder unterbricht er seinen Vortrag, um uns auf Dschungelbewohner aufmerksam zu machen. In der Frühe des Morgens begegnen uns tapsige Nasenbären (pisotes), eine Art felliges Waldschein, sich von Baum zu Baum schwingende Klammeraffen mit spinnenartigen Armen und Beinen (daher deren englischer Name “spider monkeys”), Kolibris und viele weitere exotische Vögel.

Um etwa 900 vor Christus liegen die Anfänge von Tikal. In ihrer Blütezeit waren die Tempel rot-weiß angemalt und zwischen ihnen verliefen breite Straßen statt Urwald. Gegen 900 nach Christus wurde die Stadt von ihren Bewohnern plötzlich verlassen, vermutlich wegen Überbevölkerung und dem durch die Abholzung des Regenwaldes verursachten Ressourcenmangels. Wiederum gut 900 Jahre später wurde Tikal wieder entdeckt, als Einheimische auf der Suche nach Chicle-Bäumen waren, aus denen eine natürliche Kaugummi-Substanz gewonnen wird. Ein Späher sah von einer Baumkrone aus eine Art Höhle oder Baumhaus mitten im Regenwald. Der Dschungel hatte sich die Stadt in den knapp eintausend Jahren zurückerobert und sich die Pyramiden fast vollständig einverleibt. Bis heute sehen viele der Tempel aus wie steile Hügel, die mit Büschen und Bäumen überwuchert sind. So ist nur eine von neun identischen Pyramiden ausgegraben, die unsere erste Station ist.

Als wir auf der Gran Plaza ankommen, lichtet sich langsam der Nebel und es klart auf. Hier befindet sich in Richtung des Sonnenaufgangs ein Mausoleum für den Herrscher Ah Cacao, der mit 1,82 Meter seine Maya-Landsleute um mehr als einen Kopf überragte. Von der Nordakropolis und dem Templo II aus können wir die Plaza und den umgebenden Dschungel gut überblicken, den Spechten lauschen und nach bunten Papageien Ausschau halten.

Zum Tempelkomplex des Mundo Perdido (“verlorene Welt”) gehört ein Tempel mit flachem Dach, der zur Beobachtung der Sterne diente. Von hier aus sehen wir die Spitzen der höheren Tempel aus dem Urwald ragen und hören das Grollen der Brüllaffen, das uns an Raubtiergebrüll erinnert. Tikal bedeutet “Echo”, der ursprüngliche Name der Mayastadt hingegen “gründe Stadt”. Beides irgendwie treffend.

200 Stufen führen hinauf zum Templo IV, der mit 65 Metern die höchste Pyramide darstellt. Der Ausblick über die Tempel und den von Horizont bis Horizont reichenden Urwald ist überwältigend. Wie schon den ganzen Morgen über haben wir den Tempel mit unserer Gruppe fast für uns alleine. Es sind erstaunlich wenige Touristen auf der Stätte unterwegs und die paar wenigen verteilen sich im Urwald.

Nach der Führung wandern wir zum entlegenen Nordkomplex, wohin sich nur wenige Besucher verirren, dafür jedoch um so mehr Dschungelbewohner. Kaum haben wir die Tempel erreicht, kommen uns Dutzende von Nasenbären entgegen. Auch Klammeraffen sehen wir aus wenigen Metern Entfernung in den Bäumen herumturnen. Die Tiere sind weder aggressiv noch betteln sie um Futter, sondern lassen uns genauso in Ruhe wie wir sie.

Die Isla de Flores ist verkehrstechnisch der Ausgangspunkt zur Erkundung Tikals. Mit ihren bunten Kolonialhäusern lädt sie zu einem Spaziergang ein. Da der Wasserstand des umliegenden Sees gestiegen ist, ist der Norden des Inselchens überflutet, sodass hier kleine Fische auf der Straße neben uns her schwimmen. Im Café Doña Goya lassen wir uns ein guatemaltekisches Frühstück samt Eiern, Bohnen und Tortillas mit Blick auf den See und die winzige Museumsinsel schmecken. Nach Einbruch der Dunkelheit gönnen wir uns bei den Ständen des Night Marktes “Las Mesitas” gebackene Bananen und karamellartigen Pudding.

Unsere Unterkunft liegt abseits der Isla de Flores in einer Gegend von Santa Elena, die laut José abends nicht sicher ist. Wir haben gerade eine Tour bei ihm gebucht und so fährt er uns netterweise hin – in einer Schrottlaube ohnegleichen samt defekter Innenbeleuchtung, kaputtem Stoßdämpfer, riesigem Steinschlag an der Frontscheibe und einem rechten Hinterrad, das sich anhört, als würde es jeden Moment abfallen. Wir sind froh, als wir heil ankommen. Im Nachhinein hätten wir verkehrsstrategisch besser auf der Floresinsel übernachtet oder in Tikal selbst, wo man in Hängematten nächtigen kann und sich den Anfahrtsweg am frühen Morgen spart. So bekommen jedoch wir einen interessanten Einblick in den guatemaltekischen Schulalltag. Auf dem Schulhof der gegenüberliegenden Grundschule findet nämlich eine Kundgebung mit viel offizieller Musik und Gesang statt. Die Schüler tragen Schuluniform, vorne stehen Frauen in römisch-weißen Kleidern und Männer in Militäruniform. Im Anschluss scheint Unterricht stattzufinden, während das Schulorchester auf dem Hof pausenlos “Stand by Me” trötet.

Unser Minibus ruckelt über eine Schotterpiste, die dem Paji gefallen hätte. Am Außenspiegel hängt der frisch gekaufte Fisch unseres Guides, der drinnen dann doch zu stark gestunken hat. Unser Ziel ist die Mayastätte Yaxhá, die im Triángulo Cultural liegt, dem größten Forschungsprojekt über die Mayawelt. Die Hieroglyphe für Yaxhá ist ein Papageienkopf und der Name bedeutet “grün-blaues Wasser”.

Unser Guide spricht überwiegend Spanisch und wirft ab und zu eine englische Zusammenfassung ein. Er weist uns in die Zahlenschrift der Maya ein, die auch auf den hiesigen Quetzales-Geldscheinen abgedruckt ist. Wir lernen die Hintergründe der für die Maya bedeutsamen Zahlen kennen und bekommen einen Überblick über den Maya-Kalender, der in 20 Monate à 18 Tage plus fünf Feiertage zu den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen gegliedert ist. Auf einem ehemaligen Ballspielfeld neben einer Tempelstätte spielen Max und vier weitere Tour-Teilnehmer nach, wie sich die Maya-Stadtreiche damals in Schlachten bekriegt haben.

An diesem Nachmittag sind wir mit 15 Besuchern die einzige Gruppe in Yaxhá. So haben wir den Urwald und die Pyramiden für uns alleine und sehen zahlreiche wilde Tiere von ganz nahem. Neben den Klammeraffen kommen diesmal auch Brüllaffen in Sichtweite. In einem Erdloch spürt unser Guide eine Tarantel auf, die einige auf die Hand nehmen. Neben einem Tukan sehen wir seltene Rotbauchfalken, die auf der höchsten Pyramide nisten.

Den krönenden Abschluss unseres Abstechers zu den versunkenen Mayareichen bietet der Sonnenuntergang, den wir in schweigend auf dem höchsten Tempel genießen - mit Blick über die Laguna de Yaxhá, die zwischen den Bäumen hervorragenden Tempelspitzen und den Urwald, untermalt von den Geräuschen der Dschungelbewohner. Grandios!

Und hier noch ein paar weitere Impressionen: